Zhuangzi -der zweite große Daoist


von Martin Bödicker


„Einst träumte Zhuangzi, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuangzi. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuangzi. Nun weiß ich nicht, ob Zhuangzi geträumt hatte, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuangzi sei, obwohl doch zwischen Zhuangzi und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge. (Wilhelm, S. 52)


Wie dieser kleine Text zeigt, ist Zhuangzi ein außergewöhnlich interessanter Denker. Er gilt als der zweite große Daoist und wirkte in der Zeit um 350 v. Chr. Über sein Leben als historische Person ist wenig bekannt. Er lebte wohl zumeist in sehr einfachen Verhältnissen und soll des öfteren hohe Ämter ausgeschlagen haben. Das nach ihm benannte Buch Zhuangzi (auch Das wahre Buch vom südlichen Blütenland genannt) ist wahrscheinlich zum Teil von ihm selbst geschrieben worden. Im Gegensatz zu den orakelhaften Sprüchen des Laozi finden sich seine oft auch humorvollen Gedanken in Erzählungen, Gleichnissen und kleinen Anekdoten festgehalten. Diese sind völlig unsystematisch angeordnet und es ist schwierig, eine klar definierte Lehre aus dem Buch zu gewinnen. Deshalb soll im folgenden nur auf einige wenige Hauptaspekte eingegangen werden.



Das dao bei Zhuangzi


Einer der zentralen Begriffe in der Lehre des Zhuangzi ist der Weg (dao). Die daoistische Vorstellung des dao war schon ein Hauptbegriff bei Laozi, aber bei Zhuangzi wird diese Idee weiterentwickelt und vollendet:


„Das dao ist eine Realität mit eigener Substanz, ohne Handlung und ohne Form. Es kann durch das Herz übermittelt, aber nicht durch den Mund gelehrt werden. Es ist seine eigene Ursache und seine eigene Wurzel. Es existiert seit undenkbaren Zeiten, vor der Erschaffung von Himmel und Erde. Es gebar Dämonen und Götter; es schuf Himmel und Erde. Es ist über dem Zenith, aber erscheint nicht groß. Es ist unter dem Nadir, aber es erscheint nicht klein. Es erschien lange vor Himmel und Erde, aber es erscheint nicht lange her. Es war schon vor undenkbaren Zeiten da, aber es erscheint nicht alt.“ (Zhuangzi, S. 95)


Damit ist das dao der Urgrund von Himmel und Erde. Aber Zhuangzi sagt weiterhin, dass es auch in der real existierenden Welt kein Ding und keinen Ort ohne dao gibt. Somit wird das dao zum allgemeinsten und grundlegendsten Ordnungsprinzip, das die existierenden Welt in all ihren Ebenen durchdringt:


„Wenn die Welt durch das dao betrachtet wird, folgt alles seiner angeborenen Natur. Das, was den Himmel mit der Erde verbindet, ist das de. Das was überall in der Welt agiert ist das dao.“ (Zhuangzi, S. 12) 



Der wahre Mensch


Wenn das dao also von so überragender Bedeutung ist, muss auch der Mensch in Übereinstimmung mit dem dao leben. Gelingt ihm dies, dann befindet er sich auf dem Weg zum wahren Menschen (zhenren):


„Was ist unter einem wahren Menschen zu verstehen? Die wahren Menschen des Altertums scheuten sich nicht davor, wenn sie (mit ihrer Erkenntnis) allein blieben. Sie vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Darum hatten sie beim Misslingen keinen Grund zur Reue, beim Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl; darum konnten sie die höchsten Höhen ersteigen, ohne zu schwindeln; sie konnten ins Wasser gehen, ohne benetzt zu werden; sie konnten durchs Feuer schreiten, ohne verbrannt zu werden. Auf diese Weise vermochte sich ihre Erkenntnis zu erheben zur Übereinstimmung mit dem Sinn [dao]. (Wilhelm, S. 84)


Der wahre Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass sein Geist ruhig und leer ist. Dies ist der erste Schritt, um sich und seine Umgebung zu vergessen. So findet sich der wahre Mensch nicht im Außen, sondern in der Hinwendung zum Inneren. Dies erreicht man durch die Meditation des „Sitzens und Vergessens“. Zhuangzi: 


„Den Körper abstreifen, die Sinne abschalten, den Leib verlassen, das Wissen austreiben und eins sein mit dem Alles-Durchdringenden (dao), das ist Sitzen und Vergessen.“ (Moritz, S. 118)


Durch dieses meditative Training erreicht der wahre Mensch Harmonie mit sich selbst. Er lebt jenseits vom ehrgeizigen Streben in einer hektischen Welt und hat keine Pläne mehr. Der Verzicht auf das Selbst führt dazu, dass er das Nicht-Handeln (wuwei) lebt. In diesem Rahmen sind Erziehung und die Suche nach Wissen aktive Handlungen, die der natürlichen Ordnung entgegengesetzt sind. Sie beinhalten keine Orientierung am dao und sollten daher vermieden werden: 


„Unser Leben ist endlich; das Wissen ist unendlich. Mit dem Endlichen etwas Unendlichem nachzugehen, ist gefährlich. Darum bringt man sich nur in Gefahr, wenn man sein Selbst einsetzt, um die Erkenntnis zu erreichen. [...] Wer es aber versteht, die Verfolgung der Hauptlebensader zu seiner Grundrichtung zu machen, der ist imstande, seinen Leib zu schützen, sein Leben völlig zu machen, dem Nächsten Gutes zu tun und seiner Jahre Zahl zu vollenden.“ (Wilhelm, S. 53 f)


Als Resultat der Ich-Aufgabe und des Nicht-Handelns stellt sich also ganz natürlich Gesundheit und ein langes Leben. Diese Suche nach einem langen Leben bedeutet aber keine Angst vor dem Tod. Für Zhuangzi ist das Sterben nur ein Übergang in einen neuen Zustand und gerade diese Erkenntnis bedeutet für ihn den Zustand höchster Freiheit. 



Zhuangzi und das Taijiquan


Wenn man den Einfluss von Zhuangzi auf das Taijiquan untersuchen möchte, so wird man erstaunt sein, dass trotz seiner Bedeutung als Philosoph in den Taijiquan-Klassikern keine direkte Zitate von ihm zu finden sind. Dennoch ist das Denken des Zhuangzi nicht ohne Einfluss auf das Taijiquan geblieben. Wichtige Grundvorstellungen, die die gesamte chinesische Kultur beeinflusst haben, finden sich auch im Taijiquan wieder. Das soll hier an einem Beispiel vorgestellt werden.

 

Ein wichtiger Gedankengang des Zhuangzi ist die Vorstellung eines dao, dass sowohl den Kosmos als Ganzes, als auch den Menschen und seine Handlungen durchdringt. Ziel muss es also sein, Natürlichkeit zu erlangen, um so in Übereinstimmung mit dem dao zu leben. Diese Form der Natürlichkeit kann auch in den körperlichen Fähigkeiten des Menschen sichtbar werden. So antwortet z.B. ein Mann auf die Frage, ob er ein Geheimnis für seine hervorragenden Fähigkeiten im Schwimmen hat: 


„Nein, ich habe keinen speziellen Weg. Ich begann, in dem ich tat, was ich gewöhnt war und letztlich folgte ich dem Schicksal. Ich schwimme mit den Wirbeln und treibe mit der Strömung. Ich passe mich einfach dem Wasser an und versuche nie, dass sich das Wasser mir anpassen muss. Darum kann ich so frei im Wasser schwimmen.“ (Zhuangzi, S. 311)


Bei Zhuangzi finden sich noch mehrfach Anekdoten dieser Art. Gemeinsam ist ihnen, dass bei den vorgestellten körperlichen Fähigkeiten wirkliches Können, und damit die Übereinstimmung mit dem dao, nicht willentlich und kurzfristig erzwungen werden kann. Statt dessen gilt es, regelmäßig über einen langen Zeitraum immer wieder das Gleiche zu üben. So verinnerlicht man die Übung in größtem Maße. Höchstes Können entsteht dann ganz natürlich durch intuitive Übereinstimmung mit dem Wesen der Tätigkeit. Diese Vorstellung hat bis heute einen sehr großen Einfluss auf die chinesische Kunst und Kultur und findet sich auch in großem Maße im Taijiquan wieder. So heißt es z.B. im Lied der 13 Grundbewegungen (Shisanshi gejue)


„Es kommt – ohne dass man es bemerkt – durch Einsatz von viel Zeit und hartem Üben (gongfu)“



Zhuangzi führt weiterhin aus: „Das Wirken der Natur zu kennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu stehen muss: das ist das Ziel. Die Erkenntnis des Wirkens der Natur wird durch die Natur erzeugt, und die Erkenntnis des (naturgemäßen) menschlichen Wirkens wird dadurch erlangt, dass man das Erkennbare erkennt und das, was dem Erkennen unzugänglich ist, dankbar genießt. Seines Lebens Jahre zu vollenden und nicht auf halbem Wege eines frühen Todes sterben: das ist die Fülle der Erkenntnis.“ (Wilhelm, S. 83)


Dieses hohe Ziel, von Zhuangzi formuliert, findet sich auch im Lied der 13 Grundbewegungen


„Mache dir bewusst, worin letztlich die Absicht besteht.

Das Leben verlängern. Die Jahre ausdehnen. Ewiger Frühling.“ 



Moritz Ralf, Die Philosophie im alten China, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990

Wilhelm Richard, Hrsg., Dschuang Dsi, Diederichs, München 1994

 

Zhuangzi, Hunan People´s Publishing House, Changsha 1999