Wang Chong - ein kritischer Denker


Von Armin Sievers


Die „klassische“ Periode der chinesischen Philosophie fällt in etwa zusammen mit der „Periode der Streitenden Reiche (ca. 5. - 3. Jh. v. Ch.)“ und endet 221, als das chinesische Kaiserreich unter Qin Shihuangdi gegründet wurde. Damals stritten die Könige und Fürsten um die politische Vorherrschaft in China, in dieser Lage dienten sich viele Denker mit ihren „Patentrezepten“ und „Weisheiten“ den Herrschenden an, so dass die Geschichte der Philosophie Chinas in jener Zeit sowohl die politischen und sozialen Antagonismen in Form konkurrierender Theorien widerspiegelt als auch von eben diesen Gegensätzen abhängig war.


Kritik der Denker untereinander erfolgte weniger philosophisch-systematisch, vielmehr ideologisch nach dem Grundsatz: Mein Fürst, ich habe die besseren Argumente und Pläne als die Scharlatane X,Y,Z... Erst in der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.), als der Philosophenstreit längst vorüber war (Qin Shihuangdi hatte ihm ein diktatorisch-radikales Ende bereitet; später dann wurde die Lehre des Konfuzius unter dem Han-Kaiser Wudi zur Staatsideologie erhoben), entwickelten sich allmählich Ansätze zu einer philosophischen Kritik, die die vorliegenden Ideen auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen begann. 


Einer der frühesten Denker, die den bisherigen Ertrag der klassischen Philosophie zu sichten und zu bewerten versuchten, war Wang Chong (ca.  27-97 n. Ch.). Er lebte also zu einer Zeit, die mehr als ein halbes Jahrtausend von den Anfängen der konkurrierenden Philosophenschulen und immerhin gut zweihundert Jahre von der Einführung des Konfuzianismus als Staatsideologie entfernt war. Mit anderen Worten, er hatte ein sehr großes Volumen unterschiedlichster Theorien und Aussagen über Kosmos, Naturerscheinungen und Menschengesellschaft vor Augen, das zu bewerten er sich vornahm. Dabei widmete er sich der Kritik etablierter Vorstellungen, in denen er oft genug eingefleischte Vorurteile erkannte, die er als solche auch benannte.


Da er sich selbst keiner „Schule“ des Denkens zurechnete, da er aber auch keine philosophische Systematik betrieb, wie sie uns aus der griechischen Antike und späteren Entwicklungen des Denkens im Westen bekannt ist, hat man ihn einen Skeptiker genannt. Ich ziehe vor, ihn einen kritischen Kopf zu nennen, denn mit dem Begriff des Skeptikers wird oftmals der des Pessimismus verbunden; ein Pessimist aber war Wang nicht, eher ein Querkopf – wie Chinesen es im allgemeinen jenem Menschenschlag zuschreiben, der, wie Wang, aus dem alten Kueiji stammt.  Man könnte ihn vielleicht einen kritischen Moralisten nennen oder ihn zu jenen in China seltenen Denkern zählen, die versuchten, dem Denken Werkzeuge des Urteilsvermögens zu verschaffen, mit denen die zum Teil erstarrten, eingefleischten Überlieferungen der „klassischen“ Denkschulen auf ihre Prämissen und Schlüsse geprüft werden konnten.  


Wang Chong hinterließ ein umfangreiches Werk, das uns ziemlich vollständig überliefert wurde: das „Lun heng (Ausgewogene Erörterungen)“. Alfred Forke hat es zu Beginn des letzten Jahrhunderts ins Englische übersetzt. Darin setzt er sich auseinander mit Themen, die Forke wie folgt klassifiziert: Metaphysik, Naturerscheinungen, Ethik, Kritik (der philosophischen Vorgänger), Folklore und Religion. Um nicht länger Kenntnis aus zweiter Hand zu bieten, will ich nun Wang in einigen Ausschnitten selbst sprechen lassen, so dass man seine Art zu argumentieren sehen kann: 


„Die Untersuchungen der Fünf kanonischen Bücher (Wu jing) durch die Gelehrten verfehlen zumeist die Wahrheit. Frühere Gelehrte (...) schwelgten in Erfindungen, während ihre Nachfolger, die sich auf die Aussagen der alten Lehrer verließen, den tradierten Interpretationen treu blieben und bald auf Holzwege gerieten. Sie waren schnell in Spitzfindigkeiten versiert und klammerten sich an die Lehren jeweils eines (von ihnen bevorzugten) Meisters und folgten den Theorien ihres jeweiligen Lehrers. Wann immer sie Gelegenheit fanden, nahmen sie ein Amt an und – nur noch an ihrer Karriere interessiert – fanden keine Zeit mehr, die besagten Probleme anzugehen. Auf diese Weise wurde eine ununterbrochene Kette falscher Ansichten überliefert und die Wahrheit verdunkelt.“ (Forke I, xxxvi, 447; i. Or.: juan 28)


Wie zu sehen, hegte Wang keine allzu hohe Meinung von seinen Berufskollegen der „Geisteswissenschaften“. Aber auch volkstümliche und religiöse Vorstellungen kommen bei ihm nicht gerade gut weg: „Im Mittsommer folgen Gewitter einander rasch, spalten Bäume, demolieren Häuser und gelegentlich erschlagen sie wohl einen Menschen. Gewöhnliche Leute meinen nun, dass,  wenn der Blitz in einen Baum oder ein Haus fährt, der Himmel sich einen Drachen holt, wenn er jedoch einen Menschen tötet, so geschehe es wegen dessen verborgener Fehler. Wenn die Menschen Unreines essen und trinken, werde der Himmel zornig und erschlüge sie. (...) Doch wenn wir uns die Sache genauer anschauen, finden wir, dass das alles Unsinn ist. (...) Man hat argumentiert, dass das Donnergrollen den Zorn des Himmels zeige; das wäre wohl angemessen, wenn ein Schuldiger bestraft werden sollte (...) Und wer denn ist es, von dem wir annehmen, dass er  zürnt? Der Geist des Himmels? Oder der tiefblaue Himmel? Wenn wir annehmen, es sei der Geist des Himmels, müssen wir eingestehen, dass ein Geist keine Laute von sich geben kann; wenn wir das tiefe Blau des Himmels verantwortlich machen, erkennen wir: die Substanz des Himmels kann es nicht sein, denn Zorn erfordert einen Mund. 


Himmel und Erde sind wie Mann und Frau, sind Vater und Mutter der Menschen. Wenn nun ein Sohn einen schweren Fehltritt begangen hätte und sein Vater hätte ihn dafür in einem Anfall von Wut erschlagen, würde die Mutter nicht um ihn weinen? Wenn der Himmel in seinem Zorn einen Menschen erschlägt, sollte die Erde um ihn klagen, aber man hört nur vom Zorn des Himmels, niemals von Klagelauten der Erde. Wenn die Erde keine Tränen vergießen kann, kann auch der Himmel nicht zornig sein. Zudem muß Zorn sein Gegenstück in der Freude haben. (...) Wenn man das Donnergrollen für den Ausdruck des zürnenden Himmels hält, sollte der Himmel, sobald er zufrieden ist, lauthals sein Lachen hören lassen.  (... ) 


Wenn die Luft durch Reibung zusammenprallt, entsteht ein rollendes Geräusch, das der Reibung. Ein plötzlicher Donnerschlag ist das Geräusch, das durch die zusammenprallende Luft erzeugt wird. Tatsächlich ist Donner nichts anderes als das explodierende Sonnenfluidum. Woher wissen wir das? Im ersten (Mond-) Monat beginnt das Fluidum des yang sich zu regen, folglich haben wir das erste Gewitter im ersten Monat. Im fünften Monat ist yang auf seinem Scheitelpunkt, deswegen folgen die Gewitter rasch nacheinander; im Herbst und im Winter nimmt yang wieder ab, daher nehmen auch die Gewitter in diesen Jahreszeiten ab. Zur Mittsommerzeit steht die Sonne am höchsten, dann trachtet das yin nach der Vorherrschaft. In diesem Kampf zwischen yang und yin kommt es zu Reibungen, die ihrerseits zu zerstörerischen Explosionen und zum Zusammenprall (von Luftmassen) führen. Ein Mensch, der von diesen Kräften getroffen wird, wird getötet, Bäume werden davon gespalten, Häuser zerstört, auch mag ein Mensch in einem Haus oder unter einem Baum zufällig getroffen und erschlagen werden. (...) Manchmal übertreiben die Leute Dinge, die es wirklich gibt, manchmal erfinden sie welche, die keine Grundlage in der Wirklichkeit haben. Durch Fehlschlüsse gezwungen, widmen sie sich der Fabrikation von Wundern und Mirakeln ... (Forke I, xxii, 293 ff.; Orig.: juan 6) 


Es war ein frischer Wind, der mit Wang Chong auf das eingefleischte Denken der Chinesen pfiff (im doppelten Wortsinn). Am Ende aber siegte die Trägheit der Gehirne, Wangs Kritik wurde für mehr als ein Jahrtausend missachtet oder vergessen. Sie mag wohl ihre eher heimlichen Liebhaber gefunden haben (sonst wäre sein Werk kaum in der fast unversehrten Gesamtheit auf uns gekommen) – aber durchgesetzt hat sie sich nie im dynastischen China. Für dessen Bedürfnisse taugten die konservativen Lehren „des Meisters“ (Konfuzius) und seiner Anhänger weit besser. 



Literatur

Lun Heng. Philosophical Essays of Wang Ch´ung; transl. by Alfred Forke.  New York: Paragon 1962, 2 vols.