von Armin Sievers
Eines der vielen Klischees über das alte China, die bei uns kursieren, ist jenes, das dem klassischen Denken der Chinesen die Suche und Gewinnung von „Weisheit“ unterstellt, was immer auch unter dieser verstanden werden möge. Das führt nicht nur zu fragwürdigen Übersetzungen alter Texte, die gewohnheitsmäßig unter dem Stichwort Philosophie rubriziert werden (chinesische Philosophie ist von der zeitgenössischen antiken griechischen durchaus zu unterscheiden); es führt zu Kommerzpublikationen wie Laozi für Gestreßte oder Das Tao des Managements, gar zu erfundenen Zitaten wie dem folgenden, das Laozi untergeschoben wurde: „Der Mut eines Wassertropfens besteht darin, daß er es wagt, auf die Wüste zu fallen“ (zu finden in France Bourély, Unsichtbare Welten, Hildesheim: Gerstenberg 2002, 48). Im Daodejing („Taoteking“) des Laozi sucht man es vergebens.
Es gab im alten China Denker, die nicht nur am Ergründen dessen, was „weise“ sei, interessiert waren, sondern allgemein an der Erkenntnis der Welt, ihres Zusammenhangs, ihrer Dynamik und ihrer Veränderungen, die somit ihren westlichen „Kollegen“ in begrifflicher Abstraktion bei der Suche nach allgemeinen Strukturprinzipien der Welt (des Kosmos und der ihm eingebetteten menschlichen Gesellschaft) in nichts nachstanden – nur daß man in China zuweilen andere Pfade des Denkens wählte als die uns aus der griechischen Antike besser vertrauten.
Wir wollen in dieser Zeitschrift (Taijiquan-Lilun) in unregelmäßiger Folge und unter Nichtbeachtung der Chronologie immer wieder einmal chinesische Denker in knappen Notizen vorstellen, deren Werk geeignet ist, unseren Klischees entgegenzuwirken. Heute soll das mit Zhang Heng geschehen (zu sprechen etwa Dschang Heng; Zhang ist Familienname).
Zhang lebte von 72 - 139 in der Späteren (Östlichen) Han-Dynastie, stammte aus armen Verhältnissen und soll eben deswegen bereits in Kindheit und Jugend fleißig gelernt und studiert haben. Da er die damals bereits üblichen Amtsprüfungen nicht wahrnahm, stand ihm eine automatische Karriere als Staatsbeamter zunächst nicht offen. Mit siebzehn Jahren soll er seinen Heimatbezirk Nanyang verlassen haben, um in die westliche Hauptstadt Changan (heute: Xi´an), anschließend in die östliche, Luoyang, zu gehen, wo er vergebens versuchte, zum Studium an der damaligen kaiserlichen „Universität“ zugelassen zu werden, da er die notwendigen Empfehlungen von lokalen Beamten nicht vorweisen konnte.
Er suchte und fand in Luoyang allerdings die Bekanntschaft einflußreicher Leute und wurde schließlich als Dokumentar in seinen Heimatbezirk berufen. Dort fand er Gelegenheit, viel zu lesen und Werke zu sammeln, die traditionell von Bezirksverwaltungen benötigt wurden, darunter solche zur Astronomie, zum Kalenderwesen sowie zu allen möglichen anderen „Fachbereichen“ bis hin zur Literatur. Spätestens hier erwarb er sich profunde astronomische, mathematische und kalendarische Kenntnisse. Er verfaßte auch eigene Werke zu diesen Gebieten, die teilweise noch heute erhalten sind.
Zhang war jedoch nicht nur Theoretiker, sondern ebenfalls Praktiker, der eine Armillarsphäre, einen Seismographen, einen Wagen für die Messung von Entfernungen und anderes „erfunden“ haben soll. Man muß wohl davon ausgehen, daß er Vorläufer hatte, auf deren Arbeiten er aufbauen konnte; zumindest war das der Fall bei der Armillarsphäre, deren Konzeption bereits spätestens seit Luoxia Hong (ca. 140 - 104) bekannt war. Berühmt wurde er aber vor allem mit seinem „Seismographen“, der aus einem geschlossenen runden Bronzegefäß bestand, auf dessen Oberfläche acht Drachen angebracht waren, die je eine Kugel in ihrem beweglichen Unterkiefer hielten. Unterhalb der Drachenmäuler befanden sich acht bronzene Frösche mit geöffnetem Maul. Der Bewegungsmechanismus im Inneren des Gefäßes war so konstruiert, daß bei einer Erschütterung ein Hebel den Unterkiefer desjenigen Drachen nach unten klappte, der in die Richtung blickte, aus der die Erschütterung kam.
Geschah das, so fiel die Kugel dem zugehörigen Frosch ins Maul und man konnte ablesen, wo die Erschütterung stattgefunden haben mußte. Die acht Drachen und Frösche wurden nach den Kardinalpunkten ausgerichtet. Die historischen Aufzeichnungen aus jener Zeit berichten, dass das Gerät bei Erdbeben funktionierte, die kaiserliche Verwaltung also schneller als durch Boten über die Richtung informiert war, in der ein Beben aufgetreten war.
Astronomische Interessen Zhangs hingen natürlich eng mit kalendarischen zusammen, und der Kalender spielte im alten China eine bedeutende Rolle nicht nur als landwirtschaftlich relevante Gliederung der Zeit, sondern auch für rituelle Zwecke am Hof; beispielsweise konnten die Bauern im Frühjahr mit den landwirtschaftlichen Arbeiten erst beginnen, wenn der Kaiser zum kalendarisch und rituell richtigen Zeitpunkt als erster drei Furchen mit dem Pflug gezogen und dadurch erneut den Kreislauf der bäuerlichen Jahresarbeiten nach der Winterruhe in Gang gesetzt hatte. Zur „Unzeit“ und ohne gebührende rituelle Eröffnung unternommen, hätten solche Aktivitäten nach chinesischer Vorstellung die Ordnung des Kosmos gestört und katastrophale Konsequenzen für Mensch und Natur hervorgerufen.
Zhang hatte Studien über astronomische Mathematik und über die Bewegungen der Gestirne verfaßt, hatte ein Weltmodell entwickelt und dessen Ausdehnung berechnet, das den Himmel als eine geschlossene Sphäre repräsentierte, die Erde und Gestirne umschloss. Der Himmel sei in seinem unteren Teil mit Wasser gefüllt, auf dem die Erde ruhe; hier ist er noch mythischen Vorstellungen viel älteren Datums verhaftet, doch zugleich berechnete er die himmlische Sphäre als nicht vollkommen rund, sondern an den Polen jeweils um eine geringe Distanz abgeplattet, bezogen auf die Gestalt der Erde immerhin eine „moderne“ Erkenntnis. Zhangs Werk hat noch viel späteren Astronomen und Mathematikern als Ausgangspunkt für neue Ideen gedient; seine Bedeutung liegt sowohl in dem Bemühen, tradierte mythische Vorstellungen durch solche rationaler Überlegung und mathematischer Absicherung zu ersetzen, als auch in seinen Versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse im praktischen Alltagsleben anzuwenden. Auch wenn er gewissen mythischen Vorstellungen noch hier und da verhaftet blieb, muß man ihn zu den Großen der „exakten Wissenschaften“ in deren Frühzeit rechnen, der wie selbstverständlich die Naturbeobachtung seinen Fragen und Forschungen zugrunde legte, um daraus allgemeine Regeln abzuleiten. Nichts anderes tun noch heute Naturwissenschaftler, selbst wenn die Mathematisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Gesetze einen weit komplexeren Grad als damals erreicht hat.
Übrigens wurde Zhang aufgrund seiner herausragenden Leistungen dann doch noch als Beamter an den Kaiserhof berufen.
Literaturhinweis: Joseph Needham, Science and Civilisation in China, vols. I - III, Cambridge (UK), 1954 ff.; Needham transkribiert
Chang Heng; div. Autoren, Das Wissen der alten Chinesen, Basel: Birkhäuser, 1989 und Düsseldorf: Patmos, 2001.
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