von Martin Bödicker
Wenn man sich mit China im Allgemeinen und der chinesischen Philosophie im Besonderen beschäftigt, stößt man unweigerlich auf Konfuzius (551-479 v.Chr.) und dem nach ihm benannten Konfuzianismus. Die konfuzianische Schule (rujia) war ursprünglich eine Bewegung, die in Konkurrenz mit den anderen „hundert" Philosophenschulen stand. Erst später zur Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) sollte der Konfuzianismus zu einem Mittel der Bewahrung der Herrschaftsverhältnisse, zum Staatskonfuzianismus werden. Spätestens seit dieser Zeit muss unbedingt beachtet werden, dass man Konfuzius und seine Ideen nicht mit den dogmatischen Lehren des Staatskonfuzianismus verwechselt.
Zum Leben des Konfuzius
Konfuzius, chinesisch Kongzi, wurde 551 v. Chr. im Fürstentum Lu als Nachkomme einer verarmten Familie des niederen militärischen Adels geboren. Aufgrund der ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, erfolgte seine Ausbildung hauptsächlich autodidaktisch. Der Überlieferung nach wurde Konfuzius mit zwanzig Jahren Verwalter der öffentlichen Getreidespeicher von Lu und begann, gegen Bezahlung zu unterrichten. Später wurde Konfuzius der erste „wandernde“ Lehrer. Er bereiste mit vielen seiner Schüler das Land und versuchte die Fürsten für seine Lehre zu gewinnen. Großer Erfolg stellte sich aber nicht ein. Konfuzius starb 479 v. Chr. ohne eine schriftliche Hinterlassenschaft.
Obwohl Konfuzius zu Lebzeiten keinen großen Erfolg in der Verbreitung seiner Lehre hatte, ist er doch zum Wegbereiter für Generationen von Gelehrten und Philosophen geworden. Fung erläutert: „Er war der erste Mensch in China, der Unterrichten zu seinem Beruf machte, und so die Kultur und Erziehung popularisierte. Er war es, der den Weg für viele reisende Gelehrte und Philosophen der nachfolgenden Jahrhunderte öffnete. Es war es, der die Klasse der Edlen des alten China einführte oder zu mindestens entwickelte, die keine Bauern, Handwerker, Händler oder amtierende Beamte, sondern professionelle Lehrer oder potenzielle Beamte waren.“ (Fung, S. 48). Damit war Konfuzius nicht nur der erste professionelle Lehrer Chinas, sondern er bildete auch seine Schüler zu Lehrern aus. So entstand die neue soziale Klasse der Gelehrten (shi).
Die Gelehrten stießen mit ihrer neuen Lebensweise auf heftigen Widerstand. Es wurde ihnen vorgeworfen, dass sie unproduktiv und so vollkommen abhängig von der Gesellschaft seien. So heißt es bei Han Feizi: „Die Literaten [Konfuzianer] mit ihrem Lernen bringen die Gesetze durcheinander. Die umherziehenden Kämpfer (xie) mit ihrer Kampfeslust die Verbote .... Wenn man den literarischen Studien nachgeht und die Kunst der Konversation übt, macht man keine der Arbeiten, die es braucht, um das Feld zu bestellen und hat trotzdem Reichtum; man ist nicht den Gefahren des Krieges ausgesetzt und hat trotzdem die Ehre einer hohen Position. Wer soll dies denn dann alles machen?“ (Fung, S. 52). Trotz der Kritik an ihrer Lebensweise konnten sich die Gelehrten etablieren und sollten damit die Gesellschaft Chinas entscheidend verändern.
Rückbesinnung auf die Zhou
Konfuzius empfand seine Zeit als die eines rapiden Verfalls. Die Zhou-Dynastie (1122 - 481 v. Chr.) hatte sich praktisch aufgelöst. Das Land war in viele Fürstentümer zerfallen und wurde von Unfrieden beherrscht. Aus dem Wunsch nach Stabilität heraus wurde die Grundlage des Denkens des Konfuzius dann auch die Rückbesinnung auf die frühe Zhou-Zeit. In „den Gesprächen (Lunyu)", einem Buch, in dem Aussprüche des Konfuzius von seinen Schülern gesammelt sind, heißt es dazu: „Die Zhou-Dynastie sieht auf zwei Dynastien zurück. Ihre ganze Bildung ist daher verfeinert. Ich schließe mich der Zhou-Dynastie an." (Wilhelm, S. 54). Damit stellt sich Konfuzius konsequent gegen seine Zeit und beruft sich auf das Alte. Seine Lehre ist dann auch nicht die Erschaffung von etwas Neuem, sondern der Versuch die alten Moralvorstellungen und Riten zu erhalten oder wiederzuerwecken. Er charakterisiert sein eigenes Verhalten mit den Worten „Beschreiben und nicht machen, treu sein und das Altertum lieben" (Wilhelm, S. 81). Als Voraussetzung für die Zurückführung auf den vom Altertum gekennzeichneten Weg empfahl Konfuzius eine den familiären Unterordnungsbeziehungen analoge patriarchalische Gesellschaft mit klaren Rollenverteilungen. „Der Fürst sei Fürst, der Diener sei Diener; der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn." (Wilhelm, S. 125).
Einige wesentliche Grundbegriffe
Im Gegensatz zu westlichen klassischen Philosophen kümmert sich Konfuzius wenig um metaphysische oder erkenntnistheoretische Untersuchungen. Seine Hauptaufmerksamkeit liegt auf der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Hierbei entwickelt Konfuzius drei wesentliche Konzepte und erklärt, wie diese zu ordnen sind:
1) Ordnung durch Moralisierung, d.h. durch Verinnerlichung der „richtigen" Verhaltensmaßstäbe, 2) Ordnung durch Ritualisierung von Rollen und Verhaltensmustern sowie
3) Ordnung durch Richtigstellung der Bezeichnungen.
(Weggel, S. 21).
Die Ordnung durch Moralisierung wird durch das Wort ren dargestellt. Das Wort ren kann nicht direkt übersetzt werden, sein Schriftzeichen besteht aber aus den zwei Teilen „Mensch“ und „zwei“ und verweist damit direkt auf die Verbindung zu zwischenmenschlichen Beziehungen. So findet man dann in der Literatur auch Übersetzungen wie Menschenliebe, Mitmenschlichkeit, Sittlichkeit und ähnliches. Aber keine der Übersetzungen erfasst den vollen Umfang von ren. Unter ren muss man die Summe der zwischenmenschlichen Tugenden verstehen, die im Konfuzianismus gefordert werden. Darunter befinden sich z.B. die Kindespietät (xiao), das Vertrauen (xin), die Treue (zhong), die Ehrlichkeit (cheng), die Gegenseitigkeit (shu), die Wiederherstellung der Riten (li) und die Gerechtigkeit (yi). Ren ist in der Natur des Menschen angelegt, muss aber durch Erziehung und Anleitung zur Entfaltung gebracht werden. Auf Fragen seiner Schüler bietet Konfuzius keine Definition von ren, sondern er erläutert jeweils unterschiedliche Aspekte. So heißt es z.B.:
„Ren ist, die Menschen zu lieben.“
„Die Entschlossenen, die Willensfesten, die Schlichten
und die in der Rede Langsamen sind nicht weit vom ren."
„Ren ist Selbstbeherrschung und die Hinwendung zu dem Richtigen und Angemessenen (li)“
(Fung, S. 69f).
Li, die Rituale, Zeremonien und Normen der Zhou sind der zweite Aspekt, mit dem nach Konfuzius zwischenmenschliche Beziehungen geordnet werden sollen. Ein möglichst korrektes Ausführen der Riten soll das gesellschaftliche Leben berechenbar machen. Ein nur rein korrektes Ausführen der Riten ist allerdings nicht das wesentliche Ziel. Vielmehr kommt es darauf an, innerlich vollkommen in Übereinstimmung mit den Riten zu sein, um zum Edlen (junzi) werden: „Er opferte (den Ahnen) als in ihrer Gegenwart. Er opferte den Göttern als in ihrer Gegenwart. Der Meister sprach: Wenn ich bei der Darbringung meines Opfer nicht anwesend bin, so ist es, als habe ich gar nicht geopfert.“(Wilhelm, S. 53)
Ein weiteres Grundgesetz des Konfuzianismus ist die Übereinstimmung von Bezeichnung und Bezeichnungstreue, d.h., dass z.B. der König oder der Vater sich so verhält, wie man es von einem König oder Vater zu erwarten hat. Damit entspricht er den in den Bezeichnungen angelegten Erwartungen und erzeugt einen Zustand der Ordnung. Dies ist wichtig, da so eine Gesellschaft entsteht, die auf Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit aufbaut. Aufgabe des Regierenden ist es daher nach Konfuzius, die Bezeichnungen „richtig zu stellen (zhengming)". So heißt es in den „Gesprächen": „Denn wahrlich, wenn der Fürst nicht Fürst ist und der Diener nicht Diener; der Vater nicht Vater und der Sohn nicht Sohn: Obwohl ich mein Einkommen habe, kann ich dessen dann genießen?" (Wilhelm, S. 125).
Am Anfang war das Lernen
„Der Meister sprach:
Zu lernen und das Erlernte immer wieder einzuüben
– ist das nicht wunderbar!?“
(The Analects, S. 2)
Dieser erste Satz der „Gespräche“ zeigt einen der wesentlichen Aspekte der Lehre des Konfuzius auf: „Tag für Tag zu erkennen, was einem noch an Wissen fehlt, sowie Monat für Monat festzustellen, was man bereits beherrscht. Nur wer rastlos lernt, bleibt auf dem rechten Weg (dao)“ (Weggel, S. 182). Die Liebe zum Lernen (haoxue) wird hier als Verlangen definiert, welches erst durch einen dauerhaften Prozess Erfüllung findet. Nach Konfuzius findet das Lernen in einer engen Lehrer-Schüler-Beziehung statt. Dabei soll der Schüler dem Lehrer Respekt zollen und der Lehrer dem Schüler Liebe, emotionale Wärme und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Die Schüler sollen vom Lehrer nicht gleich, sondern ein jeder nach seinen Eigenschaften behandelt werden.
Bei dieser Form des Lernens ging es Konfuzius aber nicht um das Erlernen von bestimmten Techniken, Fertigkeiten oder praktischem Wissen im Sinne einer beruflichen Ausbildung. Alleiniges Ziel des Lernens ist die moralische Vervollkommnung. So kann man sich zum Edlen (junzi) entwickeln, der im Gegensatz zum gewöhnlichen Menschen (xiaoren) steht. „Der Meister sagt: Der Edle hat die Moral als Grundlage und durch Beachtung der Riten führt er sie aus, durch Bescheidenheit drückt er sie aus und durch Treue in den Worten vollendet er sie. Wahrlich so ist ein Edler!“ (Lau, S. 134). „Der Meister sprach: „Der Edle stellt Anforderungen an sich selbst, der Gemeine stellt Anforderungen an die (anderen) Menschen“ (Wilhelm, S.158). Der Edle entwickelt durch ständige Selbstkultivierung eine besondere Stellung, die ihn aus Konfuzius Sicht sogar über den klassischen Adel erhebt.
„Der Meister sprach: „Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran, wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich ihn nicht. Wenn ich eine Ecke zeige, und er kann es nicht auf die anderen drei übertragen, so wiederhole ich nicht."" (Wilhelm, S. 83). In der Didaktik des Konfuzius wird eine hohe Eigenleistung des Schülers gefordert. Weggel führt aus: „Was die Lehrmethoden des Konfuzius anbelangt, so waren sie vor allem darauf angelegt, intuitivem Verständnis auf die Sprünge zu helfen, also die Grundthesen nicht abstrakt zu präsentieren, sondern sie immer wieder durch Beispiele zu illustrieren." (Weggel, S. 185). Zusammen mit dem Ideal der Beharrlichkeit (mo) führt diese Lehrmethode zu sicheren Lernergebnissen und selbständigem Handeln.
Als Staatsphilosoph war Konfuzius in seinem Leben sicherlich nicht sehr erfolgreich, als Erzieher und als Vorbild aller Lehrer ist er jedoch in die Kulturgeschichte seines Landes eingegangen. Bis heute ist die Freude am Lernen ein besonderes Merkmal der Chinesen. So schreibt z.B. Horst Hensel 1997 über die moderne chinesische Schule: „Die chinesischen Schulkinder scheinen grundsätzlich mit der Schule einverstanden zu sein – einschließlich der geistigen Anstrengung, die der Bildungstätigkeit innewohnt. Die Schule wird gesellschaftlich anerkannt und recht hoch bewertet.“ (Pädagogik, S. 58). Die Liebe zum Lernen und der Respekt vor den Institutionen des Lernens ist ein Vermächtnis, das bis in die Gegenwart fortlebt.
Taijiquan und Konfuzius
Wie der chinesischen Gesellschaft im Allgemeinen, so hat Konfuzius sicherlich auch dem Taijiquan die Liebe zum Lernen vermacht. Wie heißt es doch z.B. im „Lied der 13 Grundbewegungen (Shisanshi gejue)": „Ununterbrochenes hartes Üben ist die Methode der Selbstkultivierung" (Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch S. 33) oder bei Ma Yueliang: „Ob strenge Kälte oder drückende Hitze, man sollte stets regelmäßig üben. Das ist ein Prozess zur Prüfung des Charakters und der Willensstärke der Lernenden." (Wagner, Klüfer, S. 13).
Aber nicht nur die Inhalte aus der Lehre des Konfuzius sind im Taijiquan zu finden. Mitunter finden sich in Taijiquan-Klassikern auch direkte Zitate oder Anspielungen auf Konfuzius. So heißt es im „Klassiker des Taijiquan" (Taijiquan jing): „Es schweigend erkennen und es zu ergründen versuchen, bis man nach und nach frei ist, den Wünschen seines Herzens zu folgen" (Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch S. 12) In den „Gesprächen (Lunyu)" heißt es: „Der Meister sprach: „Ich war fünfzehn, und mein Wille stand aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr, mit fünfzig war mir das Gesetz des Himmels kund, mit sechzig war mein Ohr aufgetan, mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu übertreten." (The Analects, S. 10)
Bödicker, Martin, Das Tai Chi-Klassiker Lesebuch, Willich, 2013)
Fung Yu-Lan, A History Of Chinese Philosophy, Princeton University Press, Princeton, 1952
Lau D.C., Hrsg. The Analects, Confucius, Penguin Books, London, 1979
Pädagogik, Heft 10, Pädagogische Beiträge Verlag, Hamburg 1997
The Analacts, Hunan People´s Publishing House, Changsha 1999
Wagner Nina, Klüfer Werner, Mach:Art, Ratingen 1996
Weggel Oskar, Das nachrevolutionäre China, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde, Hamburg 1996
Wilhelm Richard, Hrsg., Kungfutse, Gespräche, Diederichs, München 1996
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