Der Taiji-Begriff

von Martin Bödicker

 

Taiji ist ein wichtiger Begriff der chinesischen Philosophie. Als deutsche Übersetzung bietet sich das höchste Äußerste oder das höchste Prinzip an, aber was ist mit taiji, dem höchsten Äußersten gemeint?

 

Man findet den Begriff taiji in vielen Texten der chinesischen Philosophie, die oft, aber nicht immer daoistischen Ursprungs sind. Die erste wichtige Stelle zur Bedeutung des Begriffes taiji findet sich in den Anhängen des Buches der Wandlungen, wo es heißt:

 

In der Wandlung ist es das taiji, das die zwei Formen (Yin und Yang) hervorbringt.

 

Aus dieser Vorstellung entwickelte sich die Formulierung:

 

Das taiji ist der Ursprung von Yin und Yang.

 

Obwohl sich der Begriff taiji schon in Texten aus vorchristlicher Zeit findet, wird er erst in der Song-Zeit (960 – 1279 n. Chr.) zu einem zentralen philosophischen Begriff. In dieser Zeit versuchten konfuzianische Gelehrte die großen Ströme des konfuzianischen und des daoistischen Denkens zu vereinigen. Dies mündete in der Schule der Neokonfuzianer.

 

Zhou Dunyi gilt als erster Neokonfuzianer und wurde berühmt für seine Erklärung des taiji-Diagramms, das zur Grundlage der neokonfuzianischen Kosmologie wurde, aber auch den Weg in den Daoistischen Kanon fand.

 

Zhou Dunyis Lehre und sein taiji-Diagramm beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem System des daoistischen Meisters Chen Tuan. Das taiji-Diagramm besteht aus fünf Einzelgrafiken, die untereinander angeordnet sind. Es wird angenommen, dass das Diagramm ursprünglich von den Daoisten von unten nach oben gelesen wurde. Es beschreibt so den Rückweg zum wuji, dem ursprünglichen Zustand des Kosmos. Mit Hilfe von geistigen und körperlichen Techniken sollte man hierbei ein daoistischer Unsterblicher werden.

 

Nach Zhou Dunyi ist das Diagramm aber von oben nach unten zu lesen und beschreibt die Entstehung bzw. den Aufbau des Kosmos. Seine Erklärung des taiji-Diagramms beginnt folgendermaßen:

 

Wuji und doch/dann taiji. In Bewegung bringt das taiji das Yang hervor. Wenn die Bewegung das Äußerste erreicht hat, entsteht Ruhe. Ruhend erzeugt das taiji das Yin, doch wenn die Ruhe das Äußerste erreicht hat, entsteht Bewegung. Bewegung und Ruhe Wechseln einander ab. Jedes ist die Wurzel des anderen. Durch die Unterscheidung von Yin und Yang sind diese beiden Instrumente entstanden.

 

Eine zentrale Stelle der Erklärung des taiji-Diagramms ist die Beschreibung der obersten Grafik, des einfachen Kreises. Im chinesischen Original heißt es hier: 

 

Wuji er taiji.

 

Wuji ist ein Begriff aus der daoistischen Philosophie. In frühen daoistischen Texten ist mit ihm einfach unbegrenzt oder unendlich gemeint, später jedoch bekommt er die Bedeutung ursprüngliches Chaos, das Nichts oder vor der Entstehung von Yin und Yang und entspricht so dem ursprünglichen Zustand des Kosmos. Manchmal wurde wuji auch als Äquivalent zum Begriff Dao verwendet.

 

Das Zeichen er bedeutet und doch oder und auch. Somit kann wuji er taiji mit 

 

wuji und doch taiji

 

übersetzt werden. Wuji und taiji werden also einander gleichgesetzt. Hier geht man von der Assoziation aus, dass der Kosmos und die ihn treibende Kraft und Struktur vom wuji ausgeht. Aber mit dem Begriff taiji wird anerkannt, dass es überall im Kosmos diese Kraft und Struktur gibt und das Organisationszentrum dieser Kraft und Struktur mit der Kraft und der Struktur selbst identisch ist.

 

Eine zweite mögliche Interpretation ergibt sich aus der Tatsache, dass es in einer abweichenden Überlieferung, die eventuell sogar dem Original Zhou Dunyis entspricht, heißt: 

 

Das wuji erzeugt das taiji.

 

Das wuji wird bei der Entstehung des Kosmos hier vor dem taiji angeordnet. Der Kosmos entwickelte sich also aus einem chaotischen Zustand wuji über das taiji in einen Zustand, in dem Yin und Yang getrennt sind. Das Konzept einer stufenweisen Entwicklung des Kosmos findet sich in Analogie schon in alten chinesischen Schöpfungsmythen, so z.B. im Huainanzi, aufgeschrieben im 2. Jahrhundert v. Chr.:

 

Vor langer Zeit, bevor Himmel und Erde existierten; gab es nur Vorstellungen aber keine Formen, alles war dunkel und verborgen, eine riesige Einöde, eine nebelige Weite, und nichts wusste, wo das eigene Portal war. Zwei Götter wurden aus dem Chaos geboren, die den Himmel webten und die Erde entwarfen. So tiefgründig waren sie, dass niemand ihre tiefsten Tiefen kannte und so erhaben waren sie, dass niemand weiß, wo sie zur Ruhe kamen. Dann teilten sie sich in Yin und Yang und in die acht Pole. Das Harte und das Weiche wurde geformt und die Myriaden an lebenden Dingen wurden erschaffen.

 

Das Konzept einer stufenweisen Entwicklung des Kosmos ist also alt, aber Zhou Dunyi hat gerade an dieser Stelle zwei große Leistungen vollbracht:

 

1. Er hat mit der Anerkennung dieses Prozesses daoistische Begriffe wie z.B. wuji in den Konfuzianismus einführt. In der Tat addierte er die daoistische Terminologie, um zu zeigen, dass die konfuzianische Weltsicht einschließender war als die daoistische.

 

2. Er hat diese Begriffe nicht nur eingeführt, sondern auch in neuartiger Weise in Beziehung zueinander gesetzt. So hat er z.B. als erster die Beziehung zwischen dem taiji und den Paaren Bewegung und Ruhe, sowie Yin und Yang entwickelt. Er führte die These von Bewegung erzeugt Yang, Ruhe führt zu Yin ein.

 

Mit Zhou Dunyis Erklärung des taiji-Diagramms wurde die Theorie des taiji in den Vordergrund der philosophischen Diskussion gebracht. Die Theorie der Kampfkunst Taijiquan folgt seinen Ideen. So heißt es dann auch im zentralen Klassiker des Taijiquan fast identisch zu Zhou Dunyi: 

 

 

Das taiji ist durch das wuji erzeugt worden. Es ist der Ursprung von Ruhe und Bewegung und die Mutter von Yin und Yang.