Über Taijiquan


Aus einem Vortrag von Prof. Ma Hailong anlässlich seines Düsseldorf-Besuches 2002



Vielen Dank für die Einladung, hier in Düsseldorf einen Vortrag halten zu dürfen. Taijiquan ist ein System, das in China seit vielen Jahrhunderten überliefert ist. Die Entwicklung des Taijiquan erstreckt sich über einen langen Zeitraum. Man sagt, dass Zhang Sanfeng aus den Wudang-Bergen während der Tang-Dynastie das Taijiquan begründet haben soll. Er hat im Taijiquan die Kultur seines Landes verarbeitet. Heutzutage spricht man von fünf großen Taijiquan-Familien Chen, Yang, Wu, Wu (Hao) und Sun. In der Zeit der Qing-Dynastie war das Üben von Kampfkunst sehr populär. Reiche Leute dieser Zeit trainierten im privaten Kreis und luden große Meister, wie z.B. Yang Luchan (den Begründer des Yang-Stils) ein, zu Hause mit ihnen zu trainieren. 


Yang Luchan war zu seiner Zeit sehr berühmt und wurde oft zum Kampf herausgefordert. Er unterrichtete später auch am Hofe des Kaisers. Eines Tages fragte der Kaiser Yang Luchan, welche seiner Schüler zu empfehlen sei. Yang Luchan sagte: „Es gibt drei, die sich auszeichnen. Jeder der drei hatte seine besonderen Fähigkeiten. Der erste, Wan Chun, hat besonders harte Kraft (gangjin). Lin Shan kann am besten Kraft abgeben (fajin). Wu Quanyou aber ist am besten beim weichen neutralisieren von Kraft (rouhua).“ 


Wu Quanyou, mein Urgroßvater, wurde der Begründer des Wu-Stils. Mit ihm wurde das Neutralisieren eine besondere Qualität im Taijiquan unserer Familie. Es muss im Taijiquan versucht werden, die Kraft des Anderen zu nutzen, um ihn zu schlagen. Das ist eigentlich die Essenz des Taijiquan. 


Wenn man Taijiquan lernt, lernt man nicht nur sich zu verteidigen, sondern man bekommt auch eine gewisse Philosophie vermittelt. Die Idee des Taijiquan ist es, nicht unkontrolliert anzugreifen. Statt dessen versucht man, sich selbst zurückzuhalten. Das kann dann auch auf das ganze Wesen abfärben. So haben z.B. meine Großeltern, Onkel oder Eltern nie von sich behauptet, sie seien Meister. Das gehört einfach zur Philosophie des Taijiquan. Taijiquan ist nichts für großspurige Leute. 


Die Theorie des Taijiquan folgt in vielen Punkten des Symbolik des traditionellen chinesischen Denkens. So sagt man z.B. in China, dass das Symbol der Erde das Rechteck ist. Es steht für Stärke bzw. Stabilität. Das Symbol des Himmels ist der Kreis. Er steht für die Weichheit. Der Mensch steht zwischen diesen beiden und so heißt es auch im Taijiquan, dass die Fußstellung sich am Rechteck orientiert und ein Ausdruck der Stabilität ist. Die Bewegungen der Arme und des Oberkörpers orientieren sich am Kreis und sind weich und flexibel. So vereinigt der Taijiquan-Übende in sich diese beiden Aspekte zur gleichen Zeit.


Das Wissen von der Theorie und Praxis des Taijiquan sollte nicht nur auf den chinesischen Kulturkreis beschränkt sein. Man sollte sie auch im Ausland etablieren. Dazu braucht es drei Dinge: 


- Einen sehr guten Lehrer 

- Eine gute Lernumgebung

- Eine gute Zusammenarbeit untereinander


Danach hängt dann alles nur noch vom Fleiß ab. Es gibt im Taijiquan ein Sprichwort: Der Lehrer leitet einen nur durch die Tür, d.h. er vermittelt nur die Grundlagen. Dann kommt das eigene Üben. Die ersten drei Punkte gibt es jetzt in Europa. Jetzt müsst ihr das nur noch weiterentwickeln und sehr viel üben.


Ein wichtiger Punkt in der Theorie und Praxis des Taijiquan ist das jin-Kraft verstehen (dongjin). Dies ist wirklich schwer. Man muss wissen, wie man selber und wie der Andere Kraft anwendet. Dazu wird die ganze Konzentration auf das Fühlen (tingjin) gerichtet. Es ist, wie wenn man ein Gedicht liest. Zu Beginn liest man vielleicht nur oberflächlich. Erst wenn man sich wirklich intensiv mit dem Gedicht beschäftigt, kann man es in seiner ganzen Tiefe verstehen.


Oder wie wenn man klassische Musik hört. Man konzentriert sich dann ganz auf die Musik. Deswegen sollte man beim Taijiquan auch keine Musik hören. Wenn ich Taijiquan übe, übe ich Taijiquan. Wenn ich Musik höre, höre ich Musik. Nur so bin ich ganz konzentriert. Dies nennt man auch „Himmel und Mensch sind vereint (tianren heyi)“. Ich bin ganz in Harmonie mit meiner Umgebung und lasse mich nicht ablenken. 


Taijiquan ist die Verbindung von Ruhe und Bewegung. Beim Üben des Taijiquan muss man unbedingt auf die fünf Aspekte meines Vaters Ma Yueliang, Ruhe, Leichtigkeit, Langsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer achten. Ohne sie wird man keinen Fortschritt machen. Wenn man diese Aspekte aber umsetzt, wird man große Freude am Taijiquan haben und ein gesundes und langes Leben verwirklichen. Ich bedanke mich recht herzlich, dass ihr mir so lange zugehört habt.