Das „Kraft leihen“ im Taijiquan

 

Von Feng Guodong


Aus dem Vereinsmagazin Nr. 10, S. 7 der Jianquan Taijiquan Association Shanghai vom 30.4.1984


Im Pushhands des Taijiquan betont man: „Der Andere ist hart, ich bin weich“ und „Überwinde Härte mit Weichheit“. Um dies zustande zu bringen muss man sich ganz darauf stützen, die Kraft des Anderen zu leihen (jie li). In anderen Kampfkünsten heißt es meist: „Einfache Kraft überwindet zehnfache Technik“ oder „Die größere Kraft besiegt die kleinere Kraft“. Und wie ist es im Taijiquan?

 

Ein leichtgewichtiger Übender des Taijiquan, der mit einen schwereren Partner Pushhands trainiert, wird den Sieg nicht erringen können, wenn er sich nicht auf die Kunstfertigkeit des „Kraft leihend“ stützt. Wenn man darüber spricht, sich die Kraft des Anderen zu leihen, um ihn zu schlagen, muss man wissen, dass dies keine leichte Sache ist. Erstens darf man die Kraft des Anderen nicht auf den eigenen Körper lenken. Zweitens darf man dem Anderen die eigene Kraft nicht leihen, sonst wird man selber geschlagen. Im folgenden soll das „Kraft leihen“ ein wenig diskutiert werden.



 

Sich selbst kennen – den Anderen kennen.

Die Angriff ableiten und ins Nichts fallen lassen.


Wenn zwei Partner miteinander üben, muss man, um gut Bescheid zu wissen, zuerst den Zustand des Anderen erfassen. Ein Gegenüber, dessen Kraft sehr groß ist und der sie auch gerne einsetzt, hat dadurch einen Vorteil, aber auch einen Nachteil. Wenn der Andere mit starker Kraft drückt, weiche ich sofort nach links oder rechts aus und neutralisiere so, dass seine Kraft ins Nichts fällt. Dieses „die Kraft ins Nichts fallen lassen“ muss man sofort ausnützen. Schnell setze ich meine Kraft so ein, dass der Andere seine Haltung verliert und stürzt.



 

Das Zentrum bewahren.


Wenn die Kraft des Anderen, mit der er mich angreift, sehr groß ist, kann ich nicht zulassen, dass sie mein Zentrum trifft. Ich würde stürzen, falls sie mein Zentrum trifft. Daher muss ich mit ihm mitgehen und neutralisieren, so dass er mein Zentrum nicht finden kann. Dadurch, dass ich an ihm klebe, wird er sein Zentrum verlieren. Dann setzte ich selber Kraft ein und er wird stürzen.



 

Die günstige Gelegenheit und den strategischen Vorteil (shi) erlangen.


Mit günstiger Gelegenheit ist hier der richtige Zeitpunkt gemeint. Kraft borgen und sie dann einsetzen beruht darauf, den richtigen Zeitpunkt genau zu beherrschen. Entwickelt der Andere zu Beginn noch keine Kraft und ich setze meine eigene Kraft schon jetzt ein, wendet sich die Lage gegen mich. Wenn der Andere gerade mit dem Angriff beginnt, versuche ich seine Kraft zu leihen, um ihn zu schlagen. Aber zögere ich nur ein wenig, ist der richtige Zeitpunkt schon vorüber und der Andere wird mich deshalb schlagen. Ist die Kraft des anderen schon voll entwickelt, muss ich mich kurz zurückziehen und dann aufgrund des strategischen Vorteils schnell die eigene Kraft einsetzen. Der strategische Vorteil ist hier die Methode der Positionierung des Körpers. Beim Leihen der Kraft des Anderen muss man den Anderen in eine schlechte Lage bringen. So habe ich die Gelegenheit Kraft einzusetzen und kann ein gebührendes Resultat erreichen.



 

Die Bewegungen sind gewandt.


Man muss ein tiefes Verständnis für den Satz „Der Andere ist hart, ich bin weich“ haben. Der Andere greift mich mit harter Kraft an. Mein Oberkörper ist völlig entspannt, aber er bleibt nicht immer entspannt. Wenn es so wäre, müsste der Andere nur nach unten pressen und ich würde meinen Stand verlieren. Nachdem das Entspannen ein richtiges Ausmaß erreichen hat, muss man sofort umwandeln, quer laufende Kraft einsetzen oder andere Handtechniken verwenden. In dem Moment, wo die Kraft des Anderen sich entwickelt, darf man dies alles nicht aufschieben, sonst wird man geschlagen.



 

Schnelles fajin (jin-Kraft abgeben).


Man leiht sich die Kraft des Anderen, unterbricht sie und setzt ein kurzes und schnelles fajin ein. Das fajin durch die Streckung der Arme muss nicht unbedingt weit reichen oder eine größere Strecke überbrücken. Die jin-Kraft wird abgegeben, wie man einen Pfeil abschießt. Der richtige Zeitpunkt muss genau getroffen werden. Die Kraft wird genau auf einen Punkt konzentriert, aber nur ganz, ganz leicht eingesetzt. Der Andere wird außerstande sein, sich zu lösen oder umzuwandeln und er wird unvermeidbar wegfliegen, wie bei der Explosion einer Bombe. Die Geschwindigkeit ist ein wichtiger Bestandteil des fajin.



 

Der Wechsel zwischen Leer (xu) und Voll (shi).


Wenn man die Kraft des Anderen leiht, um ihn zu schlagen, muss man zwischen Voll und Leer wechseln, unter Umständen auch äußerst schnell. Erst dann kann man das, was man vor hat auch ausführen. Wenn man Voll und Leer nicht kennt, sind Taille und Beine schwer und unbeweglich. So kann man weder die Kraft des Anderen neutralisieren, noch die vom Anderen geliehene Kraft benutzen oder ihn gar schlagen.



 

Jin-Kraft verstehen (dongjin).


Um das Kraft leihen zu beherrschen muss man zuerst jin-Kraft verstehen. Erst wenn man jin-Kraft versteht, kann man Kraft leihen. Wenn man jin-Kraft versteht, kann man der Kraft des Anderen so ausweichen, dass der Andere mein Zentrum nicht treffen kann. Danach wird mit Hilfe einer kreisförmigen Umwandlung und einer geraden Abgabe dafür gesorgt, dass die Kraft des Anderen sich gegen seinen eigenen Körper richtet. Der Andere wird durch eine Kraft geschlagen, die eigentlich seine eigene Kraft ist. Das nennt man Kraft leihen.