An - die drückende Kraft


Von Martin Bödicker


Die Handtechnik an kann als Komplement zu verstanden werden. Als Übersetzung für an wird in der Regel das Wort „drücken“ verwendet. Dies führt jedoch häufig dazu, dass versucht wird, den Partner durch reines Wegdrücken aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dies ist aber nicht der Fall.


Ma Yueliang erklärt an folgendermaßen:


An ist eine offensichtliche Kraft. Bei der Anwendung von an ist es wesentlich, dass man den Anderen mit ein oder zwei Handflächen an einer „leeren (xu)“ Stelle drückt (an). Wenn der Andere z.B. mit ji presst, kann ich die kommende Kraft nach unten drücken. So leitet man den Angriff in einer schrägen Linie nach unten. Bei der Anwendung von an muss die Bewegung Windungen haben, gleichsam wie das Auf und Nieder einer Welle. So wird der Stand des Anderen schwanken und er wird seinen Schwerpunkt verlieren. Die erstaunliche Wirkung von an kann man mit dem Abwärtsströmen von Wasser vergleichen. In seiner Weichheit liegt auch Härte und es gibt keine Öffnung, in die es nicht eindringt.“

(Ma, Xu, S. 10)


Die Assoziation von strömendem Wasser für an ist sicherlich durch das Geheimlied der acht Methoden (Bafa mijue) inspiriert, wo das Symbol des Wassers ganz im Vordergrund steht:


„Wie erklärt man die Bedeutung von an?

In der Ausführung ist es wie die Bewegung von Wasser.

In der Weichheit beherbergt es kraftvolle Härte.

Es ist ein reißender Strom, dessen Macht (shi) man nur schwer widerstehen kann.

Wenn es auf etwas Hohes stößt, schwillt es stark an.

Wenn es auf eine Niederung trifft, dringt es nach unten.

Schwere Wellen bewegen sich auf und nieder.

Keine Öffnung, in die nicht eingedrungen wird.“

(Wu, S. 102)


Um das Konzept von an in seiner ganzen Tiefe zu verstehen, muss man bedenken, dass an eine der dreizehn Grundbewegungen (shisanshi) ist. Der Begriff shi der hier für Grundbewegung verwendet wird erschließt sich z.B. aus der Zusammensetzung shoushi (Hand + shi), welches Geste oder Handbewegung heißt. In der weiteren Bedeutung, wie es auch in der Abhandlung des Taijiquan (Taijiquan lun) verwendet wird, heißt shi aber auch „strategischer Vorteil" oder „Macht".


In der chinesischen Strategemik wird der strategische Vorteil shi oft durch die Macht des Wassers illustriert. So heißt es ähnlich wie in der Taijiquan-Literatur z.B. bei Sunzi Kapitel 5:


„Dass der Schwung von herabströmenden Wasser Steinblöcke umherwerfen kann,

liegt an seiner Macht/seinem strategischen Vorteil (shi)"

(Ames, S. 118).


Sunzi möchte damit sagen, dass die Kraft des Wassers nicht im Wasser selbst liegt, sondern sich erst durch das Herabströmen aus einer gewissen Höhe entwickelt. Diese Höhe ist der eigentliche „strategische Vorteil", ohne den das Wasser nicht in der Lage ist, Kraft zu entfalten. 


Shi ist aber nicht einfach nur als strategischer Vorteil zu verstehen. Lau und Ames erläutern:


„...shi: manipulative Umstände zur Erzeugung eines strategischen Vorteils

als eine Alternative zu brutaler Kraft."

(Lau, Ames, S. 86).


Wie hier zu erkennen ist, weist die Bedeutung von shi nicht nur auf den strategischen Vorteil hin, sondern auch darauf, dass dieser nicht durch äußere Kraft, sondern durch eine beobachtende Begleitung und vorsichtige Führung der Situation herbeigeführt wird. Man gibt sich den Umständen hin und versucht den strategischen Vorteil der Situation zu erspüren und zu verstärken. Hat der strategische Vorteil eine gewisse Größe erreicht, ist man aufgrund dessen in der Lage, die Situation zu seinem eigenen Vorteil zu verändern. In der chinesischen Strategemik ist echte Stärke nicht die entfaltete Kraft, sondern die Fähigkeit, einen großen strategischen Vorteil zu erringen.


Dieses Konzept muss auch auf an angewendet werden. Es geht bei an nicht darum, den Anderen einfach mit großer Kraft wegzudrücken. Man versucht stattdessen, den Angriff zu führen und den strategischen Vorteil zu erringen. So heißt es in der Abhandlung des Taijiquan (Taijiquan lun):


„Durch Vordringen und Zurückweichen erlangt man

die günstige Gelegenheit und den strategischen Vorteil (shi)."


Aus dieser günstigen Situation heraus braucht es nicht mehr viel Kraft, um den anderen aus dem Gleichgewicht zu drücken.


Genau diese Situation, die Erzeugung eines strategischen Vorteils und den dann erst einsetzenden Gegenangriff beschreibt auch das Lied der schlagenden Hände (Dashouge):


„Ganz gleich wie stark er mich angreift,

mit der Wirkung von vier Unzen kann man tausend Pfund bewegen.

Durch Ableiten in die Leere wird der Angriff abgewehrt,

der Gegenangriff erfolgt sofort“ 


Ist durch das Führen des Anderen seine Körperstruktur geschwächt, ist der strategische Vorteil errungen. Ist der sofort erfolgende Gegenangriff ein Drücken, so spricht man von an. Damit ist an also nicht nur als einfache Handbewegung aufzufassen, sondern an ist eine komplexe Einheit aus Strategie und Technik.


Ames Roger, Sun-tzu: the art of war, Ballantine Books, New York 1993

Lau D.C., Ames Roger, Sun Pin: the art of war, Ballantine Books, New York 1996

Ma Yueliang, Xu Wen, Wushi Taijiquan Tuishou, Xianggang Shanghai Shuju Chuban, Hongkong 1986

Wu Gongzhao, Wujia Taijiquan, Xianggang Jianquan Taijiquanshi Chubanxiaozu, Hongkong 1981